Prolog
Das Licht, das Nathan Cole sah, war kein gewöhnliches Licht.
Es trat nicht von außen an seine Augen heran.
Es war eine Projektion des virtuellen Implantats, das in sein Hirn eingebrannt worden war.
Eine alternative Realität, die der materiellen Welt ihren Raum in der Wahrnehmung stahl
und seine Muskeln lähmte wie eine Droge.
Während sein Bewusstsein durch einen Tunnel aus flirrenden Farben glitt, umgab seinen Körper völlige Dunkelheit.
Er atmete durch eine bionische Maske, die seine Haut nicht als einen Fremdkörper wahrnahm.
Er schwebte in einem hydroelektrischen Gel, dessen Leitfähigkeit der seiner Zellen exakt nachgebildet war.
Und der Tank, der ihn gefangen hielt, war ein undurchdringlicher Faraday’scher Käfig.
Cole war während des Scans hellwach.
Er versuchte sich gegen den Raub seiner Gedanken zu wehren, doch sein Körper gehorchte ihm nicht.
Er hörte nur das Schlagen seines Herzens und das Rauschen des Blutes in seinen Adern.
Und alles, was er sah, waren die leuchtenden Farben,
als bestünden die Bilder, die aus der Tiefe seines Geistes auftauchten, aus reinem, pulsierendem Licht.
Doch dann drang etwas Furchterregendes in sein Bewusstsein.
Ein Feuer, das keinen natürlichen Ursprung besaß.
Es war heiß.
Es war gleißend.
Und es brannte sich tief in sein Hirn,
mit unbändiger Kraft, die ganz und gar tödlich war.
Er schrie, ohne dass sich seine Lippen bewegten.
Er kämpfte, ohne dass sich sein Körper rührte.
Er spürte nur noch den Schmerz, der zur einzigen
Realität wurde, die er noch empfand …

… und dann begann Nathan Cole von innen nach außen zu
sterben.

2:30, Queen Charlotte Sound, Neuseeland
Schnee fiel über dem Sound. Im Licht der Suchscheinwerfer hob sich die Küstenlinie nur als matte Silhouette hinter dem glitzernden Schleier aus arktischem Eisstaub ab. Vorsichtig manövrierte Hank Hansen sein kleines Charterboot durch das träge Wasser, das in Ufernähe von treibenden Eisschollen bedeckt war. Kurz nach Mitternacht war ein Blizzard über die Berge in Richtung Küste gezogen und hatte das Land unter tiefem Neuschnee begraben. Inzwischen war es fast windstill. Eine unheimliche Stille, die sich jenseits des tuckernden Diesels der Dolphin ausgebreitet hatte.
    »Wirklich eine tolle Idee, hier herumzuschippern«, brummte Hansen in seinen angegrauten Seemannsbart.
    »Wem sagst du das.« Jon Foster stand dick vermummt neben seinem Onkel am Ruderstand des betagten Wassertaxis und ließ seinen Blick unruhig hinaus über die in Kälte erstarrte Welt wandern.
    »Na, dir sag ich’s, Jon.« Hansen sah seinen Neffen verständnislos an. »Kannst von Glück sagen, dass ich dich aus unerfindlichen Gründen in mein Herz geschlossen habe. Was willst du bloß hier draußen mitten in der Nacht?«
    »Angeln.« Foster verschränkte fröstelnd die Arme vor seinem Lammfellanorak. »Die Story meines Lebens.«
    »Wenn du auf der Suche nach einer Story bist, dann erklär lieber, warum es hier im April schneit.«
  Hansen schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf seine Navigationsinstrumente. Bei den herrschenden Sichtverhältnissen war er ohne Radar blind wie ein Maulwurf, obwohl er die weitverzweigten Wasserstraßen der Marlborough  Sounds wie seine Westentasche kannte. Seit über zwanzig Jahren gehörte ihm ein kleines Taxibootunternehmen in dem beschaulichen Hafenort Picton auf der Südinsel Neuseelands, aber einen Blizzard hatte er in den Sounds noch nie erlebt.
    »Scheißwetter!« Hansen hob ein Fernglas vor sein von der Seeluft gegerbtes Gesicht und stöhnte. »Wir haben bereits mehr als zwanzig Grad minus. Wie soll’s erst im Winter werden, wenn’s einem schon jetzt die Nase abfriert?«
    »Was weiß ich?« Foster rückte näher an den kleinen Elektroradiator heran, der machtlos gegen die eisige Kälte war, die durch die Planken in das beengte Ruderhaus drang.
   »Das solltest du aber wissen, Jon. Das ist dein verdammter Job. Wir holen uns hier draußen den Tod, weil ihr ständig danebenliegt mit euren Vorhersagen.«
    »Ich arbeite nicht für den Seewetterdienst, Hank.«
    »Aber du hast den Mist doch studiert.«
    »Ich habe Biophysik studiert«, korrigierte Foster. »Und jetzt spiele ich für die Nachrichten den Frosch auf der Leiter.«
    »Ach, vergiss es.« Hansen betrachtete Fosters blasse, übermüdet wirkende Gestalt. Früher war er ein energischer, sportlicher Typ gewesen. In letzter Zeit schien er jedoch schlecht zu schlafen und bekam offenbar nicht ausreichend gesunde Nahrung. Einmal am Tag ein paar Wolken auf eine Wetterkarte zu malen war zudem kein Job für einen jungen Mann, dem eine handfeste Arbeit an der frischen Luft sicher besser getan hätte. »Ihr Schlaumeier vom Fernsehen habt doch immer ’ne Ausrede parat. Nur den Schneesturm hat wieder keiner rechtzeitig kommen sehen.«
    »Das Wetter ist nun mal ein chaotisches System.«
    »Sage ich ja, nichts als Ausreden. Das ist doch alles nicht mehr normal.« Hansen zog sich seine Skippermütze tiefer in die Stirn und schimpfte leise vor sich hin. Unwillkürlich musste er an den regnerischen Tag vor drei Jahren denken, an dem sein Neffe nach Neuseeland zurückgekehrt war. In einem erbärmlichen Zustand und mit den Scherben seines Lebens im Gepäck. Nach seinem Studium in Alaska hatte er für ein Forschungsinstitut in Anchorage gearbeitet. Aber dann hatte ihn ein beinahe tödlicher Unfall beim Eislaufen aus der Bahn geworfen. Er wollte auf den Inseln einen Neuanfang wagen und so den Alpträumen, die ihn seither quälten, entfl iehen. Aber manchmal schien es, als bedauerte er sich nur selbst.
    »Es freut mich ja, wenn du dich endlich wieder für etwas einsetzt«, sagte Hansen und versuchte Fosters dunkle Augen zu lesen, die selten verrieten, was er dachte. »Aber musst du mich ausgerechnet bei diesem Sauwetter aus der Koje jagen?«
    »Tut mir leid, Hank. Ich schulde dir einen Gefallen.«
    »Noch einen? Denkst du, ich lebe lange genug, dass du die ganzen Gefallen bei mir abstottern kannst, die sich in den letzten Monaten angesammelt haben?«
    Foster schwieg. Er war schon als Kind nicht besonders gesprächig gewesen, als er nach dem frühen Tod seiner Eltern bei seinem Onkel in den Sounds aufgewachsen war. Aber seit einiger Zeit hatte Hansen das Gefühl, dass Foster ihm bewusst etwas verheimlichte. Er war in den Wochen vor dem Wintereinbruch sehr oft alleine mit einem Segelboot hinaus in das Labyrinth der Wasserstraßen gefahren und hatte kein Wort darüber verloren, was er dort machte.
    »So langsam könntest du mir mal sagen, wohin die Reise geht.« Hansen steuerte die Dolphin aus dem Picton Inlet hinaus in die Hauptfahrrinne des Queen Charlotte Sound. »Oder wird das hier ’ne Hafenrundfahrt?«
    »Wir müssen rauf in den Tory Channel«, antwortete Foster und strich sich nervös über seine dunklen, kurzgeschnittenen Haare.
    »In den Channel?« Hansen drosselte die Fahrt. »Und dann?«
    »Zur Opua Bay.«
    »Zu Cole?« Augenblicklich stoppte Hansen die Maschine. Eine halbe Stunde zuvor hatte Foster ihn aus dem Bett geklingelt und wortkarg von einem Notfall gesprochen. »Warum hast du das nicht gleich gesagt?«
    »Dann wärst du ja nicht losgefahren.«
    »Natürlich nicht, du Schlaumeier. Nathan Cole ist ein Spinner.«
    »Er ist Neurologe.«
    »Das waren deine eigenen Worte. An dem Tag, als er dich in seinen komischen Tank sperren wollte.«
    »Das war nur ein Experiment.«
   »Ach ja?« Hansen hatte einen Artikel über Coles ungewöhnliche Versuche gelesen. Von einem Isolationstank war da die Rede gewesen, von einem Bassin, in dem man in einer Salzlösung schwebend angeblich in eine Art Traumzustand geriet und in die Tiefen des Bewusstseins abtauchen konnte. »Und jetzt klingelt er dich zur Geisterstunde aus den Federn? Hat er sich aus Versehen selbst in seinem Wasserbett eingeschlossen?«
   »Ich weiß nicht, was los ist, Hank. Der Anruf war anonym.«
   »Auch das noch.« Hansen verdrehte die Augen und begann die Dolphin zu wenden. »Und ich dachte, es ginge um eine Story für euern Sender.«
   »Hank, glaub mir«, sagte Foster und stemmte sich gegen das Ruder, obwohl Hansen deutlich kräftiger war als er. »An der Sache ist etwas faul. Cole steckt in Schwierigkeiten.«
   »Und wie bezeichnest du die Umstände, in denen wir hier stecken?« Hansen unterbrach sein Wendemanöver und deutete hinaus auf das dichte Schneetreiben.
    »Ich habe mehrmals versucht, bei ihm anzurufen. Sein Telefon ist tot, und er ist ganz alleine da draußen.«
   »Alleine sind wir auch. Außerdem fällt die Funkverbindung dauernd aus. Glaubst du etwa, ich riskier für diesen Quacksalber mein Leben?«
   »Du hast ja recht, Hank. Cole ist ein Exzentriker. Aber man hat ihn zu Unrecht beschuldigt.«
   »Zu Unrecht?«, wiederholte Hansen gereizt. »Hat er das gesagt?«
   »Du glaubst doch nicht die Gerüchte über seine Drogenexperimente?«
   »Ich weiß, was damals in den Zeitungen stand. Und wenn nur ein Bruchteil davon stimmt, haben wir in Opua nichts verloren.«
Für die Medien war Cole ein Krimineller, der an den Hirnen ahnungsloser Menschen herumgedoktert hatte, bis eines seiner Opfer ins Koma gefallen war. Und auch wenn Cole nie eine Schuld an dem Vorfall nachgewiesen werden konnte, beunruhigte es Hansen, dass sich sein Neffe für den umstrittenen Wissenschaftler interessierte.
    »Hank, man hat mich zu Hilfe gerufen«, drängte Foster und versuchte erneut, die Dolphin zurück in die Fahrrinne zu drehen.    »Der Anrufer sagte, Coles Leben sei in Gefahr.«
    »Ach ja? Wenn du mich fragst, hat sich da jemand einen üblen Scherz mit dir erlaubt.«
    »Und warum sollte das jemand tun?«
    »Weil du dich mit Cole eingelassen hast«, brauste Hansen ärgerlich auf. »Das sieht hier bei uns niemand gern.«
    Seit der Schließung seines Hirnforschungsinstituts wurde Cole gemieden wie ein räudiger Hund. Die Leute in den Sounds hätten den Forscher lieber hinter Gittern gesehen. Aber man hatte ihm nur seine Konzession entzogen und ihn wegen Drogenbesitzes zu einer hohen Geldstrafe verurteilt. Danach hatte sich Cole in sein Privathaus in der Opua Bay zurückgezogen, wo er seither wie ein Einsiedler lebte und Gerüchten zufolge weiter an fragwürdigen Experimenten arbeitete.
   »Glaub, was du willst, Hank«, sagte Foster. »Aber ein Scherz war es sicher nicht.«
   »Und warum hast du dann nicht die Polizei alarmiert?«
   »Die wollen erst bei Tagesanbruch einen Hubschrauber schicken und rieten mir, zurück ins Bett zu gehen.«
  »Eine glänzende Idee«, sagte Hansen und warf den Motor wieder an, da die Dolphin gefährlich nahe an die Eiskante am Ufer getrieben war. »Könnte glatt von mir sein.«
  »Wenn du jetzt auch noch kneifen willst, fahr ich eben alleineweiter.«  Foster deutete auf das Beiboot, das auf dem Vorschiff angebunden war.
   »Mit dem Zodiac? Bei dem Wetter?« Hansen konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. »Das meinst du doch nicht ernst, oder?«
   »Mir war es niemals ernster. Allerdings fährst du mit dem Schlauchboot zurück.«
   »Das ist wieder typisch. Ahnung von nichts und stur bis zum Anschlag.«
   »Das liegt wohl in der Familie.«
   »Heiliger Tiki!« Hansen fluchte und setzte wieder Kurs auf den Tory Channel. »Ich hab’s dir gesagt. An den Geschichten über Coles Hypnose-Hokuspokus ist was Wahres dran. Der Kerl hat irgendwas mit dir gemacht. Seit du bei ihm warst, braut sich in deinem Oberstübchen was zusammen. Etwas Unheimliches, das mir gar nicht gefällt.«
Foster schaute wieder hinaus auf das dichtbewaldete Ufer, das im Schnee wie eine Märchenlandschaft aussah. Hansen hatte Recht. Nathan Cole übte eine seltsame Anziehungskraft auf ihn aus. Aber es gab noch einen anderen Grund, warum er dem Anruf hinaus in die Sounds gefolgt war. Es war die Stimme am Telefon gewesen. Er hatte sie erkannt. Und es hatte Angst in dieser Stimme gelegen. Furchtbare Angst.