moto

Der Ursprung

 

Wolkenberge türmten sich über den Gipfeln des Nu´uanu Pali. Riesen aus Wasser und Dampf, die träge über den Himmel wanderten. Schwebend, lautlos und ewig sich verwandelnd. Sie atmeten, sie spielten miteinander und waren auf eine Art lebendig, die sich in der Langsamkeit ihrer Bewegung Motos ruhelosem Blick entzog. Er betrachtete sie gedankenversunken, und vielleicht betrachteten sie ihn auf ähnliche Weise, auch wenn er nie auf eine derart absonderliche Idee gekommen wäre. Das lag wohl daran, daß er die Wolken im Grunde gar nicht sah, daß er durch sie hindurchschaute, weil sie für ihn kein wesentlicher Teil dessen waren, was er als Wirklichkeit betrachtete.

     Alexander Moto war ein Spieler, und er spielte mit der Welt Monopoly. Hierin unterschied er sich nicht von den vielen anderen Menschen, die wie er zu der Überzeugung gekommen waren, im Ringen nach Gewinn und Macht den Sinn des Lebens zu suchen. Gemessen an der kurzen Zeit, die seit seinem Einstieg in das Spiel vergangen war, gehörte er sogar zu den erfolgreichsten seiner Art und mit Sicherheit bereits zu jenen, die süchtig nach den Chancen waren, süchtig nach Kontrolle über einen möglichst großen und bedeutenden Teil der Felder und Figuren dieses Spiels.

     Dabei überließ er sein Schicksal nicht wie andere dem Zufall. Das Glück stand seiner Meinung nach allein auf der Seite derer, die die Kunst beherrschten, die Regeln des Systems zu ihren Gunsten zu bestimmen. Das hatte für ihn nichts mit Falschspielerei zu tun. Ganz im Gegenteil. Nur die Ohnmächtigen hielten sich an das, was unveränderbar erschien, als natur- oder sogar gottgegeben. Nur sie unterwarfen sich der Gewalt, die sie als größer empfanden als sich selbst.

     Moto glaubte nur an das Prinzip der Optimierung, die er in einer sich ständig verändernden Welt als niemals abgeschlossenen Prozeß definierte. Die Existenz war ein System aus Variablen, deren perfektioniertes Zusammenwirken das große Ziel im Spiel des Lebens war. So war er ständig auf der Suche nach Verbesserungen, die das Gute und Bewährte zu Auslaufmodellen der Entwicklung machten. Hier lag für ihn der Motor allen Fortschritts und der Grund für die Überlegenheit des Menschen, der als einzige Spezies auf Erden die Intelligenz errungen hatte, sich über die natürliche Evolution zu stellen und das Leben in die eigenen Hände zu nehmen, die effektiveres zu bieten hatten als der blinde, oft ins Leere rollende Würfel von Versuch und Irrtum der Natur.

     Entspannt saß Moto auf dem gläsernen lanai seiner Privatsuite und richtete seinen Blick hinaus auf das Meer. Er liebte dieses Bild. Die spiegelnden Reflexionen des Sonnenlichts auf dem Wasser. Die wechselnden Farben jener unbekannten, abgründigen Welt, deren Geheimnisse dem Menschen bislang weitgehend verborgen geblieben waren. Einmal am Tag gönnte er sich diese Muße. Es war ein morgendliches Ritual, eine Art Meditation, bei der er Kraft für all das schöpfte, was am Tage vor ihm lag. Er thronte im Lotossitz auf einem erhöhten Sockel, von dem er weit über die Bucht von Waikiki bis hinüber nach Pearl Harbour und zu den dunkelgrünen Ketten der Wai´anae und Ko´olau Berge blicken konnte. Hier war sein Logenplatz im Welttheater und zugleich der Kommandostand, von dem aus er die Fäden seines Planspiels zog.

     Er spürte den Atem des Meeres auf seiner Haut. Den salzigen Wind, der ihm den Geruch der Brandung hinüberwehte. Er inhalierte diesen Duft und lauschte dem Gesang der Wellen, auch wenn sein Gefühl nichts mit der romantischen Poesie zu tun hatte, die andere Menschen mit dem Meer verbanden. Für Alexander Moto hatte der Ozean eine ganz andere Bedeutung. Eine realistischere, kühnere und vor allem pragmatischere Bedeutung im Hinblick auf die Strategie, die er für sich im Spiel des Lebens ersonnen hatte. Im Ozean lag die größte aller Chancen, die im System des globalen Monopoly zu erreichen waren. Im Ozean lag die Macht über die Zukunft.

     Wie ein Echo auf sein stummes Mantra glitten sanfte Hände über seine Muskeln und fuhren entlang der Schultern den Nacken hinauf unter die kurzen Strähnen seiner schwarzen Haare. Es war ein Prickeln, das wie ein schwacher Strom von den Fingern, die ihn berührten, in die Fasern seiner Nerven floß und seinen Gedanken zu einer Klarheit verhalf, wie er sie sonst nur in Momenten erotischer Ekstase erlangte. Er schloß die Augen und gab sich dem Zauber des Engels hin, der wie an jedem Morgen gekommen war, um seinen Geist über die Grenzen des Horizonts in die Sphären des Himmels zu entführen. Sie war seine Muse, sein Medium zu den tiefsten Schichten seiner Inspiration. Ohne sie war er nur eine kraftlose Hülle, ein Schatten seiner selbst, auch wenn sein Stolz und die klassisch japanische Erziehung, die er genossen hatte, ihm nicht erlaubten, es ihr jemals zu gestehen.

     Für einen kurzen Augenblick genoß er die zarten Berührungen. Dann spürte er etwas fremdes um seinen Hals, etwas kühles, öliges, das ein Schaudern durch seinen Körper fahren ließ und ihn unsanft aus dem Mantra riß.

     "Akiko...!" brauste er auf und zerriß das kunstvolle Geflecht aus dunkelgrünen Blättern, das sich bedrohlich wie eine Schlange um seine Schultern gelegt hatte. "Was soll das?"

     "Domo sumimasen deshita!" entschuldigte sich die Japanerin verwirrt, trat einen Schritt zurück und verneigte sich so tief, wie es ihr eng anliegender kimono zuließ. Sie trug einen schlichten yukata und eine passende Schleife in ihren streng zu einem Knoten zusammengebundenen Haaren. Ihr Gesicht hatte etwas puppenhaftes, das durch die Blässe ihrer Haut, die offenbar nie von Sonnenstrahlen berührt worden war, noch verstärkt wurde. Nur der schmale, leuchtend rote Mund unterstrich die Züge ihrer zarten Schönheit, deren Komposition in Japan seit Jahrhunderten als klassisch galt.

     Moto warf den Blätterkranz auf den Boden und fuhr wütend hoch.

     "Was ist das?"

     "Ein lei...", antwortete Akiko leise und verbeugte sich erneut.

     "Himmel, das sehe ich! Wo hast du das her? Wer hat das Teufelsding gebracht?"

     "Ein Bote..."

     "Ein kama´aina...? Motos Augen zuckten nervös.

     "Nein, ein kleiner Chinesenjunge. Er sagte, ein Mädchen, das aus den Wellen gekommen sei, hätte ihn geschickt."

     "Ein Mädchen...? Aus den Wellen...?"

     Moto starrte auf die grünglänzenden Blätter, die plötzlich einen süßlichen Verwesungsgeruch verbreiteten. Im gleichen Moment begannen sich wie im Zeitraffertempo weiße Blüten zwischen den Blättern zu bilden, die genauso schnell wieder verwelkten. Übrig blieb nur ein klebriger Schleim, in dem sich dicke Maden wanden.

     "Verdammte kahunas!", rief er ärgerlich und beförderte den lei mit einem Tritt in eine Ecke des lanai. "Wirf das Ding weg! Nein, verbrenne es! Vernichte es! Sofort!"

     Er spürte wieder die unangenehme Kälte, die von den Füßen hinauf in seinen Leib stieg, die Anwesenheit des unsichtbaren Schattens, der ihn seit Wochen verfolgte, wohin er auch ging.

     "Wo ist der Junge?"

     "Ich sagte, er soll draußen warten, aber..." Akiko unterbrach ihre Erklärung als ein lautes, klirrendes Geräusch zu hören war.

    Moto warf sich seine Morgenjacke über und eilte in den Empfangsraum seiner Suite. Der Junge war fort. Dafür lag das zylindrische Meerwasseraquarium, das neben der Tür auf einem Sockel gestanden hatte, in Scherben und seine ebenso seltenen wie kostbaren Bewohner kämpften auf dem überschwemmten Teppichboden um ihr Überleben.

     Moto stieß eine Verwünschung aus und rannte hinaus auf den Arkadengang, der die oberste Etage über dem Atriumgarten des Hotels säumte. Rücksichtslos drängte er zwei Dienstmädchen beiseite, die gerade dabei waren, den Boden des Ganges zu wischen, und kollidierte unsanft mit einem Mann, der aus einem der Fahrstühle kam. Der Mann strauchelte, stürzte und stieß gegen einen der Putzeimer, die mitten im Weg standen.

     "Lassen Sie mich durch..." raunzte Moto ohne ein Wort der Entschuldigung und stürmte zum Geländer der Balustrade. Die gläsernen Fahrstühle, die hinunter ins Erdgeschoß des Hotels führten, waren leer, und auf den Kieselwegen des Atriums stand nur eine Gruppe japanischer Touristen, die sich mit wortreichen Gesten gegenseitig fotografierten.

     "Akiko, ruf sofort den Sicherheitsdienst", brüllte er. "Weit kann der Bursche nicht gekommen sein."

     Dann fuhr er gereizt zu dem Mann herum, den er umgerannt hatte. "Haben Sie in der Lobby einen Jungen gesehen?"

     "Was...?"

     "Einen Chinesenjungen. Er muß Ihnen entgegengekommen sein."

     "Ich habe niemanden gesehen", erklärte Dennis ungehalten und klopfte sich das Wischwasser von seiner neuen Designerhose. Offenbar war er in Hawai´i nicht einmal in geschlossenen Räumen vor dem Wasser sicher.

     "Was suchen Sie überhaupt hier?" Moto kochte vor Wut. "Diese Etage ist privat."

     "Mein Name ist Newman. Mr. Moto erwartet mich."

     "Newman...? Ach richtig!" Moto versuchte sich wieder zu fassen. Er durfte sich nicht von der Hysterie anstecken lassen, die seine Gegner mit ihren makabren Spielchen unter seinen Angestellten zu verbreiten versuchten. "Verzeihen Sie bitte mein Benehmen!"

     "Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen..." Dennis wendete seinen Blick hinüber zu Akiko, die mit versteinertem Gesicht und weit ausgestreckten Armen den verfaulten lei aus der Suite trug.

     "Ungelegen...? Nein, nein, ganz im Gegenteil. Ich bin froh, daß Sie so kurzfristig anreisen konnten."

     "Was war denn los?"

     "Es war..., wie soll ich sagen...? Ein kleiner Streich." Moto instruierte einen herbeigeeilten Wachmann, der sich diskret bemühte, die übelriechenden Überreste des Blätterkranzes in einer Mülltüte verschwinden zu lassen.

     "Ein ähnlicher Streich wurde mir bei meiner Ankunft am Flughafen umgehängt. Allerdings mit dem Kuß einer liebreizenden Inselschönheit."

     "Das hier war wohl kaum als aloha-Geste gedacht. Aber bitte, Mr. Newman! Entschuldigen Sie mich für einen Moment."

     Während Akiko Dennis mit zurückhaltender Freundlichkeit in einen geschmackvoll mit japanischen Lackmöbeln eingerichteten Besprechungsraum führte, verschwand Moto hinter einer Tür in den privaten Bereich seiner Suite. Wenige Minuten später kam er in einem maßgeschneiderten, hellgrauen Seidenanzug zurück. Dazu trug er ein kragenloses weißes Hemd ohne Binder und schwarze Yashitomi-Slipper.

     "Für die Hawaiianer, Mr. Newman, sind leis eine Art Sprache", erklärte er lächelnd und setzte sich Dennis mit wiedergewonnener Selbstsicherheit gegenüber. "Leis drücken vielfältige Stimmungen und Botschaften aus. Sie heißen willkommen, beschwören die Liebe oder verfluchen einen Feind."

     "Und was ist Ihnen für eine Botschaft überbracht worden?" fragte Dennis, obwohl ihn im Augenblick mehr interessierte, warum es ihm nicht gelungen war, sich derart leger, den Temperaturen angemessen und gleichzeitig elegant zu kleiden.

     "Das war ein lei hala. Er verkündet Mißerfolg in geschäftlichen Angelegenheiten und manchmal auch den Tod."

     "Eine nette Aufmerksamkeit."

     "Selbst im Paradies paart sich Erfolg oft mit Mißgunst und Neid. Und nicht alle Hawaiianer begrüßen den Tourismus auf den Inseln."

     "Verstehe...!" Dennis verzog amüsiert die Mundwinkel.

     "Glauben Sie, Mr. Newman? Ich denke, ein haole wird Hawai´i nie ganz verstehen." Moto bat Dennis einen der eisgekühlten Fruchtdrinks zu nehmen, die Akiko auf einem silbernen Tablett hereingebracht hatte. "Hawai´i no ka oi, sagen die Einheimischen. Hawai´i ist wie kein anderes Land. Es birgt viele Seltsamkeiten und Rätsel."

     "Jedes Land hat seine Geheimnisse, aber das wird wohl kaum der Grund für den Vorschuß gewesen sein, den Sie mir geschickt haben."

     "In gewisser Weise schon. Ich möchte, daß Sie jemanden für mich ausfindig machen. Eine überaus rätselhafte Person."

     Moto legte eine Bleistiftskizze auf den Tisch, die bestenfalls die Qualität einer Phantomzeichnung besaß. Das Bild zeigte die Konturen einer jungen Frau, mit langen, gewellten Haaren, vollen Lippen und schmalen, fast asiatischen Augen. Offensichtlich war es eine Insulanerin. Die Gesichtszüge waren jedoch undeutlich gezeichnet, wie das Produkt einer schemenhaften Vorstellung.

     "Wer ist dieses Mädchen?" fragte Dennis verwundert und zwang seine Phantasie nicht mehr in das Bild hineinzuprojezieren, als dort tatsächlich zu sehen war.

     "Das weiß ich nicht."

     "Und warum interessieren Sie sich dann für sie?"

     "Offenbar ist sie es, die sich für mich zu interessieren scheint."

     "Einen Augenblick, Mr. Moto! Sagten Sie nicht, ich soll jemanden suchen, der verschwunden ist?"

     "Das Geheimnis dieser kama´aina liegt nicht in ihrem Verschwinden, sondern in ihrem Erscheinen."

     "Ich gebe es ungern zu, aber ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen."

     "Sie taucht auf unerklärliche Weise auf und verschwindet in ebensolcher Weise wieder, ohne daß es irgendwelche Hinweise auf ihre Identität gibt. So hat sie sich bereits mehrere Male Zugang zu den verschlossenen Magazinen im Keller des Halewai-Museums verschafft und dabei wiederholt einen der wissenschaftlichen Angestellten bedroht, die dort für meine kulturhistorische Stiftung arbeiten."

     "Bedroht? Auf welche Weise?"

     "Offenbar verursacht ihr bloßes Erscheinen Angst und Schrecken." Moto nahm zwei kleine Jadekugeln aus einer Lackschatulle und begann sie durch die Hand rollen zu lassen. "Haben Sie schon einmal etwas von kahuna-Hexerei gehört, Mr. Newman?"

     "Hexerei?" Dennis runzelte zweifelnd die Stirn. Gehört hatte er natürlich davon und er glaubte daran mit mindestens gleicher Ernsthaftigkeit wie an das Ungeheuer von Loch Ness, das bislang zum Glück noch nicht auf seiner Fahndungsliste gestanden hatte.

     "Manche nennen es hawaiianisches Voodoo! Es ist eine subtile Form des psychischen Terrors, der bei labilen Menschen Symptome fortschreitender Paranoia hervorruft. Angeblich löst es bereits Unheil aus, wenn die kahuna ihr Opfer nur anschaut. Mit ihren glühenden Augen, die rotes Feuer sprühen wie unsere Vulkane." Moto räusperte sich verächtlich und schien offensichtlich Dennis Meinung zu teilen. "Wissen Sie, das ist alter Aberglaube, aber viele Leute auf den Inseln sind noch immer sehr empfänglich für solche Praktiken."

     "Gehören zu diesen Praktiken auch die freundlichen Blumengrüße, die Sie gerade erhalten haben?"

     "Das war ein harmloser Schabernack. In den letzten Wochen hat es weitaus dramatischere Vorfälle gegeben. Es kursieren bereits Gerüchte, daß es sich dabei um den bösen Zauber einer kahuna ´ana´ana handeln soll, einer Meisterin der dunklen Magie, die es aus irgendwelchen Gründen auf mich abgesehen hat. Haben Sie die Sauerei auf dem Dach des Hotels gesehen?"

     Dennis nickte.

    "Vergangenen Freitag fanden wir den Kadaver eines vier Meter langen Riffhais im Pool der maritimen Ausstellung, die ich vor einigen Wochen in Honolulu eröffnet habe."

     "Ein Hai...?"

    "Er war schon halb verwest, und wir haben zwei Tage die Schauräume schließen müssen, bevor der Gestank sich endlich verzogen hatte."

     "Und Sie vermuten, daß diese makabren Inszenierungen das Werk dieser... Hexe sind?"

     "Ich beabsichtige nicht, an Zauberei zu glauben, Mr. Newman. Für mich waren das gezielte Anschläge einer Gruppe militanter Aktionisten, zu denen auch diese kama´aina zählt."

     "Mit welchem Hintergrund?"

     "Wie ich bereits sagte. Der Tourismus hat nicht nur Freunde auf den Inseln. Am wenigsten unter den Einheimischen."

     "Und was wollen diese Leute mit ihren Voodoo-Spielchen erreichen?"

    "Das weiß ich noch nicht. Wahrscheinlich bilden diese geschmacklosen Einschüchterungsversuche erst den Anfang ihrer Erpressungstaktik, dem sie später handfestere Drohungen und Forderungen folgen lassen. Sie werden verstehen, daß ich es soweit erst gar nicht kommen lassen möchte."

     "Vielleicht sollten Sie sich unter diesen Umständen an die örtliche Polizei wenden", riet Dennis mit einem Gedanken an sein Rückflugticket.

     "Die Polizei...?" Moto setzte ein mitleidiges Lächeln auf. "Ich brauche jemanden mit subtileren Fähigkeiten. Verstehen Sie, Mr. Newman? Ich habe nichts gegen die Täter in der Hand. Außer der Aussage meines Mitarbeiters, der diese Frau mehrfach gesehen haben will. Zuletzt in der Nacht, als die Serie der Anschläge begann und er ohnmächtig in seinem verwüsteten und mit Schlick verschmierten Büro aufgefunden wurde. Seltsamerweise war die Türvon innen verriegelt, und er konnte sich später an nichts mehr erinnern. Außer an die glühenden Augen dieser kahuna, die ihn seiner Ansicht nach heimgesucht hatte."

     "Ist Ihr Mitarbeiter Hawaiianer? Oder anders gefragt, wäre es denkbar, daß er die ganze Sache selbst inszeniert hat, weil er mit den Aktionisten sympathisiert?"

     "Natürlich wurde in diese Richtung ermittelt, aber erstens ist Joshua Hopkins ein angesehener Wissenschaftler und zweitens haben die Ärzte ihm einen tiefsitzenden Schock attestiert, der nur durch ein traumatisches Erlebnis ausgelöst worden sein kann."

     "Mentale Dislokation..." murmelte Dennis und dachte an Brillsteins Theoriensammlung, die er ebenso auswendig kannte, wie er sie haßte. "Haben Sie schon einmal daran gedacht, einen Privatdetektiv einzuschalten?"

     "Sind Sie das nicht, Mr. Newman?"

     "Wie man es nimmt. Zumindest bin ich kein Bodyguard und schon gar kein Geisterjäger. Ich beschränke mich darauf, die Spuren leibhaftiger Personen zu rekonstruieren, die auf unerklärliche Weise verschwunden sind."

    "Wäre es nicht ebenso interessant, die Spuren eines Menschen nachzuzeichnen, der auf mysteriöse Weise zu existieren scheint?"

     Dennis spielte nachdenklich mit seinem Drink und ließ seinen Blick über die Zeichnung des Mädchens wandern.

    "Sie möchten also, daß ich ein Phantom suche, das möglicherweise nur in der traumatischen Phantasie Ihres Mitarbeiters existiert?"

     "Die Anschläge waren keine Phantasie. Nur leider hilft uns das nicht weiter. Das Bild dieser kama´aina und eine Wagenladung verendeter Meeresfauna sind bislang die einzigen Spuren, die wir haben."

     "Das sind allerdings sehr dürftige Spuren."

     "Mehr habe ich augenblicklich nicht zu bieten, Mr. Newman. Und in Anbetracht der Situation versteht sich absolute Diskretion von selbst. Solange der Fall nicht geklärt ist, darf niemand etwas über die wahren Hintergründe Ihrer Nachforschungen erfahren. Ich möchte nicht riskieren, daß der tadellose Ruf meiner Einrichtungen in irgendeiner Form beeinträchtigt wird. Ganz zu schweigen von dem drohenden Schaden für den Tourismus auf den Insel."

     "Ich kann nicht gerade behaupten, daß mich Ihr Auftrag begeistert, Mr. Moto", gab Dennis ehrlich zu und bereute es einmal mehr auf Brillsteins Rat gehört zu haben.

     "Das hatte ich auch nicht erwartet. Genauso wenig, wie ich glaube, mich in Ihrer Neugier getäuscht zu haben."

     "Wäre es möglich, mit Ihrem Mitarbeiter zu sprechen?"

     "Hopkins ist geschäftlich unterwegs, aber er wird spätestens morgen vormittag wieder in Honolulu sein."

     "Also schön, Mr. Moto, ich werde mir Ihr Angebot bis dahin überlegen."

     "Bitte, wie Sie wollen, und betrachteten Sie sich solange als mein Gast." Moto stand auf, öffnete einen kleinen Tresor, der in den Sockel einer eigenartigen, aus gläsernen Prismen geformten Skulptur eingelassen war, und holte eine kleine Chipkarte daraus hervor. "Dies ist der Schlüssel zu Ihrem Apartment und allen anderen Einrichtungen hier im Hotel. Außerdem bietet Ihnen die Karte Zugriff auf ein angemessenes Spesenkonto und öffnet einige wichtige Türen in Honolulu, die ansonsten für Außenstehende verschlossen sind."

     "Das nenne ich paradiesische Arbeitsbedingungen", witzelte Dennis und steckte den Chip in seine Hemdtasche. "Wie sagten Sie? Hawai´i no ka oi..."

     "Leider hat das Paradies auch seine Schattenseiten, Mr. Newman." Moto reichte Dennis die Hand und deutete zur Tür. "Sollten Sie noch etwas benötigen, wenden Sie sich vertrauensvoll an meine Sekretärin, Miss Watanabe. Sie ist angewiesen, alle Ihre Wünsche im Rahmen des Möglichen zu erfüllen, und... ach ja, es gibt heute abend im Hotelgarten ein kleines Fest. Es kommen einige recht interessante Leute, die Sie kennenlernen sollten. Und falls Sie gefragt werden, was Sie hier tun, sagen Sie einfach, Sie arbeiten an einem Pressebericht über mein neues Hotel in der Ma´alaea Bay."

     Moto drückte einen Knopf auf seinem Interkom. Im nächsten Augenblick erschien Akiko mit einem bestimmten Lächeln, das Dennis ohne ein weiteres Wort dazu bewegte, den Raum zu verlassen. Er folgte der Japanerin zurück in das mittlerweile gereinigte Vorzimmer, erwiderte schweigend die höfliche Verbeugung und wendetet sich zum Gehen. Dabei fiel sein Blick auf die Glasvitrine, die anstatt des zertrümmerten Aquariums neben der Tür aufgestellt worden war und das Modell eines utopisch anmutenden, katamaranförmigen Bootes zur Schau stellte. In diesem Moment schickte ihm seine Erinnerung ein Bild und webte einen seltsamen Zusammenhang, der ihm bislang nicht aufgefallen war.

     Nachdenklich blieb er vor dem Exponat stehen und drehte sich noch einmal um. "Entschuldigen Sie, Miss Watanabe, haben Sie zufällig die Zeitung von heute?"

     "Wir haben mehrere Tageszeitungen in Honolulu, Mr. Newman. Den Advertiser, den Star Bulletin, den Island Daily..."

     "Ich glaube, es war der Island Daily ..."

    "Alle aktuellen Ausgaben liegen dort." Akiko deutete auf einen Tisch, der zu einer Sitzgruppe neben der Tür gehörte. "Bitte, bedienen Sie sich."

     Dennis blätterte die Zeitung durch und fand schließlich, was er suchte. Es war eine Art Todesanzeige, eine kurze Gedenkschrift, mit einem Gedicht in hawaiianischer Sprache und einem Foto, das ein altertümliches Seefahrzeug mit seiner Besatzung auf hoher See zeigte. Schon bei seinem Frühstück im Queen Kapiolani Park war ihm das anachronistische Schiff aufgefallen, das offenbar der Nachbau eines alten polynesischen Hochseekatamarans war. Weil er aber Schiffe haßte, hatte er sich nicht weiter darum gekümmert und die Zeitung weggeworfen. Nun fiel es ihm wieder ein. Ein undeutliches Detail, das in seinem Unterbewußtsein zurückgeblieben war.

     "Was ist das für eine Geschichte mit diesem Schiff?" fragte er und betrachtete mit wachsender Unruhe das Foto.

     "Welches Schiff, Mr. Newman?" Akiko warf einen Blick auf die Zeitung. "Ach, Sie meinen die Sache mit der Tangaroa-Expedition. Eine furchtbare Tragödie. Die Zeitungen waren wochenlang voll davon, aber inzwischen ist das Interesse der Medien weitgehend abgeebbt."

     "Was ist denn mit dem Schiff geschehen?"

     "Man sagt, es sei auf offenem Meer in einem Sturm gesunken."

     Dennis schluckte. "Und die Besatzung?"

    "Das hat niemand überlebt. Wirklich tragisch. Es sollte eine Besuchsfahrt quer durch Ozeanien werden, zur Revitalisierung der polynesischen Seefahrertraditionen. Und dann, nach 20000 Seemeilen, alle tot."

     "Sind Sie sicher, Miss Watanabe? Sind bei dem Unglück wirklich alle Besatzungsmitglieder umgekommen?"

     "Das ist, was in den Zeitungen stand, Mr. Newman. Die Tangaroa wurde vor einem Monat als vermißt gemeldet, und seither hat es trotz intensiver Suche kein Lebenszeichen mehr von ihr gegeben."